Frontalangriff aufs Prinzip Zuschauen 

von Wolfgang Behrens

Heidelberg, 4. Mai 2016. "Solange ihr lacht, habt ihr nichts verstanden", brüllt Franz Pätzold ins Publikum, und natürlich lachen einige weiter (der Berichterstatter eingeschlossen) – schon aus Abwehr gegen diese absolut heftige Ansprache, der man gerade ausgesetzt ist. Nein, das ist keine Publikumsbeschimpfung vom Feinsten, sie ist vom Gröbsten.

Pätzold, der hier als Alter Ego des Regisseurs Oliver Frljić agiert, schleudert den Heidelberger Zuschauer*innen des Gastspiels "Balkan macht frei" vom Münchner Residenztheater entgegen, dass sie Gaffer seien, die sich dafür beklatschen, eine grüne Landesregierung gewählt zu haben, und nun im Theater aus der Distanz ein bisschen Balkan sehen wollen. Ein Stück von einem bosnischen Künstler, von dem man sich erhofft, dass er einem ein bisschen Gewalt, Hass und unterdrückte Wut ins saturierte Haus liefere. "Aber ich sage euch etwas: In zwei Jahren ist hier Krieg!"

Echte Atemnot

Pätzold improvisiert diese Suada mit unglaublichem Druck. Als ein Zuschauer die Nerven verliert und "Ich glaub', es reicht jetzt" ruft, ätzt Pätzold zurück: "Sollen die in Syrien auch rufen: 'Es reicht jetzt'?" Der Frontalangriff trifft auch deswegen mit so großer Wucht, weil er eine Grundverabredung des Theaters in Frage stellt – Frljić und Pätzold machen sich angesichts so vieler drängender Probleme der Gegenwart lustig über das Modell: Ihr zahlt und schaut zu, wie wir für euch spielen. Pätzold schimpft und schimpft, und irgendwann kann man sich tatsächlich fragen: Warum sitze ich hier eigentlich? Was soll das Theater? Und da lacht man sich seine Unsicherheit halt mal sicherheitshalber weg.

Balkanmachfrei4 700 Konrad FerstererIn bedrohlichen Situationen: Franz Pätzold vorne und Mitspieler in "Balkan macht frei" © Konrad Fersterer

Aber schon wenige Minuten später vergeht einem das Lachen. Denn dann legen Pätzolds Mitspieler ihm einen Lappen aufs Gesicht und übergießen ihn beharrlich mit Wasser, will sagen: Sie foltern ihn mittels Waterboarding. Der Vorgang ist insofern real, als die körperlichen Reaktionen – Würgen, Atemnot – darauf echt und nicht gespielt sind. Dabei zuzusehen ist eine Qual.

Wider die Balkan-Klischees

Schnell ertönen "Aufhören!"-Rufe aus dem Publikum, Zuschauer*innen erklimmen die Bühne, plötzlich gehen gar Zuschauer in Zweiergruppen auf die Bühne und greifen ein, versuchen, die Schauspieler an ihrem Tun zu hindern. Erst beim zweiten Mal gelingt es, indem eine Frau kurzerhand das Wasserreservoir ausschüttet. Und wieder gerät man ins Grübeln über eine theatrale Grundverabredung: Na klar, die wissen auf der Bühne schon, was sie tun, insofern muss ich wohl nicht eingreifen. So denkt man es sich vielleicht. Was aber, wenn die künstlerische Entscheidung gerade die wäre, dass die Folterszene erst aufhört, wenn jemand aus dem Publikum sie unterbindet?

Am Anfang des Abends hatte sich Pätzold alias Oliver Frljić einem Verhör seiner Mitspieler unterzogen, die ihm entlocken wollen, warum er in Deutschland inszeniere, und was er denn ausgerechnet den Deutschen erzählen wolle. Schnell wird in dieser Szene klar, dass Frljić hierzulande als Regisseur vom Balkan in vielfältige Klischees gepresst wird, quasi: "Hey, Jugo, zeig' uns Deine Wut! Zeig' uns Deinen Stolz! Zeig' uns Deine Verzweiflung und Deinen Hass!"

Theatrale Selbstauslöschung

Frljić hat den Spieß nun umgedreht: In "Balkan macht frei" übererfüllt er Wut, Stolz, Verzweiflung und Hass bis über die Schmerzgrenze hinaus. Was daran Frljić ist und was um des Klischees willen eingenommene Pose, bleibt völlig unklar. Die Radikalität der Aufführung liegt paradoxerweise auch darin, dass man am Ende nicht weiß, wie ernst ihre Radikalität gemeint ist. Ob ihre Unbedingtheit nicht doch eine bedingte ist.

Man verlässt diese Inszenierung ratlos, hilflos, produktiv verwirrt, auf sich selbst zurückgeworfen. Man hat – das immerhin beginnt man langsam zu begreifen – einer hochtheatralen Selbstdemontage des Theaters beigewohnt. Und wohl einer der wichtigsten Aufführungen der Saison.

 

Balkan macht frei
von Oliver Frljić
Uraufführung Gastspiel Residenztheater München
Regie, Bühne, Musik: Oliver Frljić, Kostüme: Katja Kirn, Licht: Barbara Westernach, Dramaturgie und Übersetzung: Marija Karaklajić, Götz Leineweber.
Mit: Leonard Hohm, Alfred Kleinheinz, Jörg Lichtenstein, Franz Pätzold.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.residenztheater.de

 

Zur Nachtkritik der Münchener Uraufführung