Schichttorte intertextuell

von Cornelia Fiedler

Heidelberg, 6. Mai 2016.Hui, zwei Seiten Vorrede des Autors bevor der Stücktext beginnt. Jean-Marie Piemme möchte sehr, sehr genau verstanden werden. "Szenarien", erfährt man da, sei ein Plural-Titel und verweise auf mindestens drei Ebenen, genauer, eine "dreischichtige Vertiefung". Klingt kompliziert, ist es aber nicht in der Inszenierung von Antoine Laubin, einer Koproduktion des Staatstheaters Braunschweig mit "De Facto" Brüssel und dem Théâtre de Liège: Da sind die sieben Schauspieler*innen aus Belgien und Deutschland, die sich anständig mit Namen, Geburtstag und -ort vorstellen. Da sind ihre Rollen, sieben Szenarist*innen, die gemeinsam ein Drehbuch entwickeln. Und dann wären da noch die Protagonist*innen ebendieses Drehbuchs. Noch können wir folgen, Film ab.

Ein Haufen sympathischer, schlagfertiger Leute trifft zusammen, liefert sich zur Begrüßung auf Französisch und Deutsch gleich die ersten ironisch funkelnden Wortscharmützel. Man kennt sich, man schätzt sich, gelegentlich schläft man miteinander. Mit Spannung wird vor allem der Neue erwartet, William. Vielleicht, meint irgendjemand kokett, sei der ja "auch nur eine Illusion". In jedem Fall aber taugt er – oder wahlweise Jérôme Nayer – als hübsch anzusehende Projektionsfläche, so dass der gemeinsame Plot schnell Fahrt aufnimmt: William und Florence (Coraline Clément) entwickeln auf Englisch eine erste Szene. Belgien in den 30ern, junger deutscher Kommunist trifft belgische Unternehmergattin, sie versucht ihn zu verführen. Nach den ersten Worten klettern beide auf den langen weißen Arbeitstisch des Teams, deuten das Geschehen an, probieren Varianten. Die anderen korrigieren, kommentieren, springen bei Bedarf ein.

Was Nachgeborenen so einfällt

Ein bisschen echter Flirt schadet nicht, eine eigene Agenda auch nicht: Szenen werden munter abgebrochen und neu gefasst bis Alberto, gespielt von Andreas Bißmeier, aus der Szenaristenrolle fällt, er hat andere Sorgen. Sein Sohn hat sich für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan verpflichtet. Statt Ideen zu Story trägt er plötzlich stockend jenen Wunsch-Brief vor, den sein Sohn ihm nie schreiben wird.

Szenarien 700 Volker BeinhornSzenaristen bei der Arbeit – auf welcher Ebene befinden wir uns? © Volker BeinhornAuf der Plot-Ebene wird Max derweil nach Berlin geschickt, streitet mit Muttern und verliebt sich in eine Schauspielerin: Patin steht hier Carola Neher mit ihrer legendären Polly Peachum. Die Story entwickelt sich auf Fernsehfilm-Niveau und strotzt bald von allem, was Nachgeborenen so spontan zur NS- und Nachkriegszeit einfällt: Horst-Wessel-Lied, Demütigungen durch die SA, Exil in der Sowjetunion, Arbeitslager, Vergewaltigung durch Soldaten, ein Kind, dem seine wahre Herkunft verschwiegen wird und und und ... Zur intellektuellen Auflockerung liest Renaud Van Camp gelegentlich Texte von Marx oder Marcuse vor.

Spannend an der Versuchsanordnung wäre ja, die Wechselwirkung zwischen Erzählenden und Erzähltem zu untersuchen. Wer versucht hier aufgrund welcher eigenen Sehnsüchte, Ängste oder Pläne den Plot in welche Richtung zu drehen? Aber dafür bleiben die Charaktere zu unspezifisch und arbeiten deutlich zu einvernehmlich zusammen. Selbst in der eingebauten Teambesprechung der realen Schauspieler*innen werden vor allem Anekdoten und Höflichkeiten ausgetauscht. Das große, fordernde intertextuelle Abenteuer bleibt aus.

 

Szenarien
von Jean-Marie Piemme
Uraufführung
Regie: Antoine Laubin, Bühne: Ralf Wrobel, Antoine Laubin, Kostüme: Veronika Kaleja, Dramaturgie: Charlotte Orti von Havranek, Thomas Depryck.
Mit: Caroline Berliner, Andreas Bißmeier, Coraline Clément, Jérôme Nayer, Oliver Simon, Renaud Van Camp, Rika Weniger.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-braunschweig.de
www.theatredeliege.be

 

 

 

Kommentar schreiben

Sicherheitscode
Aktualisieren