Selfie mit Rissen an der Wand

von André Mumot

April 2016. Was lange bebt, muss schließlich einstürzen. So ist es auch hier. Irgendwann wackeln die Wände, irgendwann rollen die Panzer heran, irgendwann ist das Chaos da. Und gegen Ende, als alles schon versinkt in der größtmöglichen Katastrophe, sagt eine der Stimmen, die diesen Text so namenlos wie hilflos bevölkern: "Also, ich hab an dieser Scheiße hier nicht mitgebaut. Ich hab doch einfach nur friedlich vor meinem Fernseher gesessen und Bauer sucht Frau geguckt."

Da ist sie also, die heisere, gepresste Angst, die nicht nur die Bühnengestalten umtreibt. Sie steckt als Stachel tief in diesem Stück wie in großen Teilen der Gegenwartsdramatik und wirft immer wieder neu die Frage auf: Was, wenn wir nicht aufmerksam genug sind, wenn wir uns zu sehr einigeln in kuscheliger Privatheit, wenn wir von Sofas schreiben und von Fernsehserien, von unseren Beziehungen und unserer Kindheit, während um uns herum die politischen Systeme zerfallen und Menschen elendiglich sterben?

Fort mit den Bequemlichkeiten

Maria Milisavljevic ist mit ihrem Erstling 2013 sofort ein beachtlicher Erfolg geglückt. "Brandung" hat ihr den Kleistförderpreis für junge Dramatik eingebracht und hohe Erwartungen an weitere Arbeiten geweckt. Nicht zuletzt, weil es der 1982 in Arnsberg geborenen Autorin geglückt war, eine komplex verrätselte, gleichzeitig handfest reale Geschichte zu erzählen, die vom Verschwinden handelt, von Liebesbetrug, von migrantischer Identität und zerstörerischer Gewalt. Wie ein raffiniertes, existentiell zugespitztes Krimipuzzle voller glaubhafter, identifikationsstiftender Figuren wirkte dieses Debüt, und die von Christopher Rüping inszenierte Uraufführung, die 2014 auch beim Heidelberger Stückemarkt zu sehen war, unterstützte den Text noch mit fiebriger Gefühlsintensität vor tropfend tauender Eisbühne.

Auf die "Brandung" folgt nun das "Beben", auf die private Geschichte der globale Rundumschlag, auf verwinkeltes Erzählen die breite dialogische Textfläche, auf die Figuren, die ICH, ER, SIE hießen, ein kollektives WIR, dem die Autorin lakonisch hinzufügt: "Wer immer und wie viele wir auch sind." Nein, es ist überdeutlich: Maria Milisavljevic will sich nicht nachsagen lassen, als Autorin auf dem gemütlichen Sofa gesessen und "nicht mitgebaut" zu haben, sie will schreibend Blicke werfen auf die Gegenwart, will Bequemlichkeiten forträumen. "Just jetzt", sagen ihre Stimmen oft: "Das sind diese Zeiten." Und, um es konkreter zu machen: "Tote Kinder mit aufgeplatzten Schädeln auf den Wüstenstraßen. Vom Wasser aufgeweichte, wabernde Körper in den glitzernden Wellen des Meeres."

Verdrossenes Alltagseinerlei

Doch wie kommt man ihr schreibend bei, der sich zunehmend brutalisierenden Welt? Und wie schließt man sich selbst mit ein, aus der Dramatikerinnen-Perspektive der immer noch so behüteten westeuropäischen Lebensumstände? Maria Milisavljevic entscheidet sich für eine schillernde Verstrickung der Gleichzeitigkeiten, der immer enger ineinander geflochtenen Kontraste und Assoziationsschauer. Ihre nicht näher bezeichneten Sprecher schalten, befreit von örtlichen und chronologischen Bezugspunkten, permanent hin und her zwischen höchst alarmierter Weltbeobachtung und banalsten Wohlstandsfeststellungen, die die Koordinaten unserer Zeitgenossenschaft abgeben: "Abgeschossen, weil Frau Merkel nichts gesagt hat." Oder: "Jeder Hipster trägt ja heut nen Bart." milisavljevic vitaMaria Milisavljevic
© Cylla von Tiedemann

Eben noch wird der angeblich so idyllischen Kindheit in den 80ern nachgetrauert ("Ich fühle, dass damals alles grüner war und langsamer") und schon im nächsten werden Verletzte beklagt ("Hat es sie schwer erwischt? Allerdings, drei Kapitalanlagen dahin."). Ebenso bäumt sich die Sprache der Autorin auf, klettert hoch hinauf ins anklagende Pathos, nur um sofort wieder hinabzutrudeln ins verdrossene Alltagseinerlei: "Heute stürzt Windows ab und schwupp sind drei Stunden verloren. Und dann denke ich mir manchmal: auch egal. Es war doch ehr nur eine Partitur des Nichts."

Göttliches Walten, menschliche Ohnmacht

Zusammengehalten wird der polyphone Chor aber nicht nur durch jenes titelgebende Beben, das apkoalyptisches Unheil andeutet. Maria Milisavljevic findet ihren dramaturgischen Anker in den kryptischen Schöpfungsmythen, die der englische Dichter William Blake am Ende des 18. Jahrhunderts erfand. Ein mysteriös süffisanter Gigant beobachtet die Szenerie, der "Mann an der Kante von Ulro", auf dessen Stirn das Wort "Verstand" geschrieben steht und der aus den Untiefen seiner Manteltaschen immer wieder neue, wimmelnde Gestalten entlässt, die auf zugespitzte Weise die Missstände seiner gottgleichen Regentschaft symbolisieren.

Erst sind es "kleine Schwarze", die für ihn Diamanten aus der Erde graben müssen, später "kleine Grüne" ("Sie marschieren los in Kompanien und Kohorten"), dann ein "paar Kleine in blauen Overalls, mit blauen Kappen", die er an die Fließbänder setzt. Schließlich noch ein "paar Pinke", die sich wie Könige fühlen dürfen und mit allem Geschäfte machen, "was gut ist zum Geschäfte machen" – namentlich mit Waffen. Diese legendenhafte Konstruktion mag irritieren, da sie reale Zusammenhänge zugleich vereinfacht und in unbestimmte Distanzen rückt. Sie ist aber vor allem eindringliche Versinnbildlichung eines tief verwurzelten Ohnmachtsgefühls von Menschen gegenüber "der lenkenden Kraft, die irgendwann begann, ihr Leben, ihre Wünsche und ihre Taten zu übernehmen."

Maria Milisavljevics ferngesteuerte Figuren träumen von Fernsehruhm in Castingshows, spielen Ego-Shooter, twittern und fühlen zugleich kalte Panik in sich aufsteigen, weil das kriegerische Chaos der wirklichen Welt immer näher kommt: "Guck mal, da die Wand, die reißt ein. / Selfie mit Rissen an der Wand." Der Blick der Autorin auf all das, auf die leeren Phrasen und das wirkliche Blut, ist immer ein kindlicher: staunend, wütend, empört und verzagt, orientierungslos und zugleich vom Willen beseelt, sich nicht abfinden zu müssen. Deshalb auch wählt sie für ihr Finale ein in seiner märchenhaften Absurdität entwaffnendes Happy End.

Kein Riese wird kommen

Es gibt noch einen zweiten Giganten, den Bruder des "Mannes an der Kante von Ulro", der für die Liebe steht, für die Ideen der Gleichheit und des Friedens, und der den bösartigen Weltregenten mit einem innigen Bruderkuss entmachtet: "Er küsst seine Lippen, und die Lippen des Mannes an der Kante der Welt, sie formen ein Lächeln."

Schön ist die Utopie, schön ist auch ihre lyrische Intensität, der feierliche Abgesang auf den Zustand des hier und Heute. Zugleich liegt die perfide Falle dieses aufgewühlten, vielstimmigen Theaterbebens gerade im unausweichlichen Abgleich mit der Realität: Kein Riese wird kommen, kein Riese wird das Elend der Welt fortküssen, und wir, die wir auf Sofas sitzen und uns ablenken mit Castingshows, mit Lästereien über Hipsterbärte und nostalgischen Erinnerungen an unsere Kindheit können schwerlich darauf hoffen. Die Risse sind ja längst zu sehen an der Wand, wir spüren es ja schon rumoren unter unseren Füßen. Maria Milisavljevic stellt die Frage nicht, und gerade deshalb ist sie überdeutlich zu hören am sanft verklingenden Ende ihres Stücks: Was werden wir tun?

 

Lesung von "Beben" am ersten Tag des Autorenwettbewerbs, Samstag 30. April, um 14.30 Uhr, im Alten Saal.

Kommentare  

#1 wie sonst?Martina 2016-05-09 22:27
"[...]sie will schreibend Blicke werfen auf die Gegenwart." Und sie schreibt nicht nur Momente, sie setzt sie. Sie fragt und antwortet in einem Satz. Sie bewegt durch den Rückwurf auf uns, auf die Realität. Wie sonst kann Stillstand so bewegt sein?

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