Jenseits des Jordans

von Michael Wolf

April 2016. "Die Hölle, das sind die anderen", heißt es in Jean-Paul Sartres Stück "Geschlossene Gesellschaft". Darin quälen sich drei Verstorbene, indem sie sich gegenseitig ihrer zurecht gelogenen Biographien entledigen. Kurz vor seinem Tod widerrief Sartre Teile seiner auf die Freiheit des Individuums gründenden Philosophie und näherte sich Emmanuel Levinas an, für den die Begegnung mit dem Anderen das ist, was den Menschen überhaupt erst Mensch werden lässt.

In Martina Clavadetschers Stück, mit dem sie bereits den Essener Autorenpreis gewonnen hat, bedeutet der Andere beides: Hölle und "Umständliche Rettung" zugleich. "Umständlich" wiederum einerseits, weil man sich eben nicht alleine retten kann. Um im Sturz aufgefangen, geliebt oder vom Stromschlag verschont zu werden, brauchen wir jemanden, der im richtigen Moment unsere Hand ergreift. Dafür wurden Helden erfunden als eine Art säkularisierte Engel. "Umständlich" ist die Rettung in diesem Stück aber auch, weil sich eben dieser Engel bis zum Schluss weigert, seinen Dienst anzutreten.

Eine unzuverlässige Erzählerin

Die Ökologin Yamila kommt aus Berlin in eine Stadt irgendwo im Nahen Osten, um dort Proben für ihre Forschung zu sammeln. Bald geschehen seltsame Dinge. Immer wieder begegnet sie dem Fleischer und Schnapshändler El-Arad: "Auf dem Blumenmarkt, bei den Südtoren der Stadt, in den Seitengassen, beim Münztelefon, in der Süsswarenbäckerei, in der Schlange vor dem Postschalter, auf den Stufen des Stadthauses" und schließlich sogar in einer ausländischen Fernseh-Vorabendserie.

clavadetscher vitaMartina Clavadetscher 
© Ingo Höhn
Aber nicht nur das: Ein Offizier verhört Yamila und lässt sich einfach nicht von dem Gedanken abbringen, sie wisse von einem nahenden Anschlag. "Was wird hier gespielt?" Baganja hat ihr Schicksal in die Hand genommen. Sie ist die Erzählerin des Stücks, allerdings eine unzuverlässige Erzählerin, denn sie verfolgt eigene Interessen. Die Milliarden-Erbin möchte anstelle von El-Arad gerettet werden. Denn dass Yamila ein Engel ist, der einen auserwählten Menschen vor der bevorstehenden Zerstörung der Stadt bewahren wird, daran zweifelt bald niemand mehr – abgesehen von Yamila selbst.

Aber was soll sie machen? Sie erlebt nur, was eine andere bestimmt. Während Baganja und bald auch El-Arad auf die von ihr gespendete Erlösung hoffen, bedeuten sie für Yamila selbst die Sartre'sche Hölle. Und das auch noch, als die Figuren gegen Baganjas Regie aufbegehren und der Offizier als bürokratische Ordnungsmacht die Erzählerin schließlich aus der Geschichte suspendiert. Denn es gibt da ja auch noch eine Göttin respektive Autorin, die sich über ihr Tippen in den Text hineingeschrieben hat. "Tipp, tipp ... Gibt es einen Kontrollraum. Hinter diesem Raum, meine ich. Hallo? Wer ist da? Aufhören! Lassen Sie mich gehen. Ich gehöre nicht hier her."

Reflexion über das Geschichten-Erzählen

Das ist natürlich über alle Dimensionen hinweg eitel, aber wer wollte einer Dramatikerin Eitelkeit vorwerfen? Zumal das Wort "eitel" lange Zeit vor allem "vergänglich" bedeutete. Schreiben geht die Hoffnung auf das Gelesen-Werden voraus und damit ein Stück Unsterblichkeit. Autoren sind Götter auf Zeit. Ihre Welten bestehen nur, solange ein anderer ein paar Seiten oder Stunden im Theater an sie glaubt.

Clavadetschers Stück ist vor allem eine Reflexion über das Geschichten-Erzählen und über die Macht der anderen über die eigene Vergangenheit. Denn die Figuren wollen nicht erzählt werden, sie wollen ihre eigene Geschichte und sie wollen endlich ein Happy End dafür. El-Arad offenbart sich Yamila, indem er sein an die biblische Figur Lot angelehntes, verpfuschtes Leben Revue passieren lässt. Er ist ein Mörder, Säufer und Vater seiner Enkelkinder, ein totaler Versager, "aber dann haben Sie dieses letzte Etwas in mir gefunden. (...) Jetzt weiss ich es: Ich bin ein guter Mensch. Sie retten mich." Erlösung würde für El-Arad bedeuten, die eigene Biographie mit den Augen eines anderen zu sehen und darin einen Schatz zu entdecken – deswegen glaubt er an seinen Engel. Wer sollte einen wie ihn sonst retten können?

Die Macht der höllischen Erfindungen

Seine Richterin Clavadetscher schöpft als barmherzige Göttin aus dem Vollen des popkulturellen Gedächtnisses. Unterschieds- aber nie wahllos bedient sie sich bei der alttestamentarischen Geschichte um Lot, Sodom und Gomorrha, der Verwechslungskomödie, dem Krimi (El-Arad hat als Fleischer seinen Vorgänger verwurstet) oder dem Katastrophenfilm. Wie in einem solchen wird alles aufgezählt, was eine Stunde später in Schutt und Asche liegt. "Da sind noch mehr Lastwagen. Diese wiederum verlassen die isolierte Stadt. Auf den Ladeflächen liegt zu Würfeln gepresstes Aluminium, zu Würfeln gepresster Kunststoff, (...) Akkus, Stromkabel, Computerbildschirme, faulige Äpfel, Knochen von toten Tieren ..."

Es ist ein Inventar des Bestehenden, das seinen Untergang bereits in sich trägt. Die Szenen gehen gnadenlos ineinander über, die Figuren hören selbst in den Szenen einander zu, in denen sie eigentlich keine Rolle spielen sollten, einmal lässt die Erzählerin Yamila in der Luft schweben. Der Macht der höllischen Erfindungen sind keine Grenzen gesetzt. Nur sparsam und widersprüchlich verweist der Text auf soziale Realitäten im Nahen Osten. Ein Bürgerkrieg wird angedeutet, und vielleicht sind es tatsächlich Terroranschläge, die am Ende die Stadt verwüsten. Zugleich aber sind Schnaps und Blutwurst frei erhältlich. "Irgendwo jenseits des Jordans" soll das Stück spielen, es könnte aber auch einfach "irgendwo" sein, an einem Unort, der am Ende des Stücks tatsächlich über den Jordan geht. Denn nicht jeder kann gerettet werden.

Eine traurige Pointe

Auf der Flucht vor der Zerstörung beschwört El-Arad seinen Engel Yamila, nicht zurückzublicken. Wir wissen ja, was mit Lots Frau passiert ist, die vielleicht einfach deswegen keinen Namen trägt, weil ihr nie jemand einen gegeben hat, niemand ihre Version der Geschichte erzählen wollte. Hierin liegt die traurige Pointe des Stücks: Alleine werden wir nie eine schöne Geschichte erlebt haben. Um gerettet zu werden, muss uns ein Gott seinen Engel schicken, der uns eben dieses Leben vergibt.

 

 

Lesung von "Umständliche Rettung" am zweiten Tag des Autorenwettbewerbs, Sonntag 1. Mai, um 13 Uhr im Alten Saal.

 

Aber nicht nur das: Ein Offizier verhört Yamila und lässt sich einfach nicht von dem Gedanken abbringen, sie wisse von einem nahenden Anschlag.

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