Ikarus' Daseinszorn

von Christian Rakow

April 2016. "Mongos", der Titel des Stückes von Sergej Gößner, macht erst einmal schlucken. Es ist eines dieser Worte aus dem Jugendslang, für die man sich früher oder später schämt, wenn man einmal einen Begriff von Diskriminierung, von Mobbing, von Ausgrenzung gewonnen hat. Und ein Jugendstück ist "Mongos" tatsächlich auch. Also wird, sobald das Wort fällt, umgehend aufgeklärt: "Man sagt nicht '‚Mongo', okay? Diese Menschen haben das Down-Syndrom. Trisomie-21. Und man kann damit leben. Die meisten sogar ganz gut!"

Das Wort macht, ob man will oder nicht, bei allem Beigeschmack auch einen künstlerischen Kontext auf. Die Performancegruppe Monster Truck hat vor nicht allzu langer Zeit gemeinsam mit Spieler*innen vom integrativen Theater Tikwa der schillernden Schmähung einen Theaterabend abgewonnen: "Dschingis Khan", ein Stück von kolonialistischen Klischees ("die Mongolen") und von Klischees über Menschen mit Trisomie-21 ("die Mongoloiden", wie man früher sagte). Es ist einer der wichtigen Abende des neueren Inklusionstheaters, das auf breiter Front daran arbeitet, die Selbstverständlichkeit des Lebens und Umgehens mit geistigen oder körperlichen Behinderungen ästhetisch erfahrbar zu machen.

Jugendliche im Rollstuhl

Um die Suche nach einer solchen Selbstverständlichkeit geht es auch den beiden Protagonisten in Sergej Gößners Stück: Ikarus ist seit Kurzem querschnittsgelähmt, ob durch einen Unfall oder "ne ziemlich blutige Schießerei“, wie er gern mal großmault, bleibt offen. Francis hat Multiple Sklerose. Beide lernen sich in einer Reha-Klinik kennen, werden Freunde. Sie präsentieren ihre Geschichte im Wechsel von Narration und szenischer Darstellung rückblickend.

goessner vitaSergej Gößner 
© Christine Tritschler
Ikarus ist der halbstarke Töner, der rundherum Leute als "Schwuchtel", als "Spastis" oder eben "Mongos" anraunzt, wobei die meisten Beschimpfungen auch für seine eigene Situation eingespannt werden. Francis, mit dem Vornamen von Francis Bacon (der eingefleischten Verschwörungstheoretikern als Autor der Werke William Shakespeares gilt), ist zurückhaltender, vielleicht schwul (auch das bleibt offen), dichtet Lyrik, wenn auch nicht unbedingt Sonette von höchsten Weihen: "Die Zeit heilt alle Wunden und hinterlässt ihre Spuren / Die Zeit heilt alle Wunden und dreht an unsren Uhren."

Gößner schickt seine Helden durch jugend- und jungentypische Episoden. Sie schwatzen übers Saufen und über Frauen, wobei es Ikarus schwer fällt, "eine weibliche Pflegekraft nicht als reine Mumu auf zwei Beinen wahrzunehmen", wie Francis anmerkt. Sie gehen ins Kino, und sitzen – wieder die kesse Lippe von Ikarus – in der "Behindi-Loge", weil sie "Mongobonus" haben. Einmal wird Ikarus dann aber doch ein wenig kleinlaut, als er sich in Jasmin verliebt. Beim ersten "DVD-Abend" (eine Chiffre für "Rumfummeln und mehr", wie man lernt) will es mit den beiden dann nicht recht klappen.

Pubertät und andere Behinderungen

Mit seinem genretypisch ungleichen Doppel – der Macker und sein stiller Freund – verhindert Gößner äußerst unverkrampft jeglichen wohlmeinenden "Opferdiskurs" rund um die körperliche Problemlage der beiden Jugendlichen. Stattdessen schließt alles leichthin an Topoi an, die man von einem gut gemachten Jugendstück erwartet. Die Erektionsstörung von Ikarus beim "DVD-Abend" etwa ist mitnichten eine Markierung für seine Querschnittslähmung, sondern steht schlicht für altersentsprechende Aufregung (weil es bei Ikarus' Schädigung "ab Th 10 abwärts" rein physisch an sich gut klappen könnte). Sein Aggro-Style kommt als Gemisch aus seiner Abwehr gegen das körperliche Gebrechen daher, aber auch als pubertätstypische Wut eines von den Eltern vernachlässigten Knaben. Im wachsenden Eingeständnis eigener Ängste und Bindungsschwächen wird sich sein Bildungsprozess entfalten.

Spielerisch geht Gößner mit dem unterschwelligen Gender Trouble der Jungs um: Explizit sehen die Regieanweisungen vor, dass der Francis-Spieler auch alle übrigen Rollen des Stückes übernimmt: den schwulen Psychologen, der Ikarus‘ Daseinszorn ausmoderiert, ebenso wie die Jugendliebe Jasmin. Hier bringt das Stück mit Vertrauen auf die performative Kraft alle Einfachheit von Zuschreibungen und alles Ab- und Ausgrenzende (egal ob schwul, hetero, "Mongo" oder Nicht-"Mongo") in die Schwebe.

Kraft der schnellen Verwandlung

Sergej Gößner, Jahrgang 1988, ist ausgebildeter Schauspieler, aktuell im Ensemble des Theaters Pforzheim. Man merkt seinem Debütstück an, wie er von der Szene her denkt, von der schnellen Verwandlung. Mit dem Jugendtheater ist er seit seinem Engagement am Jungen Staatstheater Wiesbaden (2010-2012) vertraut. 2013 erhielt er den Stella Award der österreichischen ASSITEJ für den Monolog "Krieg. Stell Dir vor, er wäre" (basierend auf dem Buch von Janne Teller). Nicht von ungefähr ist der Schlagabtausch seiner Figuren zügig, kantig, glaubhaft.

Im Hintergrund des Stückes stehe die Geschichte eines Freundes von Gößner, der mit neunzehn Jahren "noch vor dem Ende seiner Sturm-und-Drangphase" bei einem Autounfall beide Beine verlor, erzählt Gößner bei unserem Telefonat. Die Problematik in der Verwendung des Schimpfworts "Mongos" für den Titel sei ihm durchaus bewusst. Aber solche Begriffe zu tabuisieren, bedeute eher eine "positive Diskriminierung", weil das Phänomen damit "wieder eine besondere Stellung" kriege. "Es zu thematisieren und die Leute vielleicht auch zu sensibilisieren, indem man ein Stück so nennt, ist sehr sinnig. Das ist zumindest mein Ansatz."

 

Lesung von "Mongos" am ersten Tag des Autorenwettbewerbs, 30. April, um 13 Uhr im Alten Saal

Mehr dazu: Jüngst resümierte Georg Kasch auf nachtkritik.de, wie sich im Inklusionstheater der performative Turn vollzieht.

 

 

Kommentar schreiben

Sicherheitscode
Aktualisieren