Hoffnung auf den nächsten Vollmond

von Sophie Diesselhorst

April 2016. "Unruly Girls who will not settle down they must be taken in hand" – "Renitente Gören, die nicht zur Ruhe kommen, müssen in (!) die Hand genommen werden", lautet der zweite von insgesamt 55 Szenen-Titeln in Anne Leppers "Entwurf für ein Totaltheater". Bei den Smiths, von deren legendär melancholischem Songwriter Morrissey diese Zeile stammt, geht es folgendermaßen weiter, ins Deutsche übersetzt: "Einen Sprung in der Schüssel/Kriegst du, wenn du nicht nachfragst/Und einen Sprung in der Schüssel/Kriegst du, wenn du nachfragst". Fatalismus pur.

Bei Anne Lepper wird diese Fortsetzung ausgespart – beziehungsweise anders ausbuchstabiert: In ihrem "Totaltheater" stehen lauter unsichtbare Wände, gegen die Hauptfigur Bonnie wie ein desorientierter Vogel knallt. Egal ob Bonnie mit immer wieder neu aufgeladener Naivität nach den Verhältnissen fragt, in denen sie sich aufhält – sie ist nämlich eine Geflüchtete in einem unbekannten Land – oder ob sie sich gerade in einer resignativen Phase befindet (markiert durch die Sätze "ja stimmt" und "ach so"): Eine Veränderung ihrer Situation hat sie nicht in der Hand, die wird von anderen in die Hand genommen.

Übers Mehr-als-alles-Wollen

Bonnie ist ein "unruly girl", sie hat ihren Mann und ihre Kinder im Stich gelassen und eine "vorhandene Wirklichkeit", in der sie alles hatte, also: "ein eigenes Zimmer und 500 Pfund im Jahr". Bonnie jedoch will "mehr als alles", was von Anne Lepper ins Konkrete übersetzt bedeutet: Sie will zum Theater. Die Leser*in begegnet ihr in einem Zwischenstadium, das ihr zu Beginn vom Milchmann/Ehemann auferlegt worden ist: Sie sammelt Lebens-Erfahrung, denn:

Ehemann: Ohne Erfahrung wird es nicht gehen

Milchmann: Sie müssen etwas erleben

In der mysteriösen Doppelfigur des Ehemanns/Milchmanns fallen Ausgangspunkt und Ziel von Bonnies Flucht zusammen: Vor ihnen, die im sicheren Zuhause reichlich Himbeerjoghurt bereit gestellt haben und sie regelmäßig daran erinnern, läuft sie weg, zu ihnen als Machthaber des Theaters, die darüber entscheiden, wer Hauptdarstellerin wird, läuft sie hin.

Und läuft einem Polizeichor in die Arme, der das Land, in dem sie landet, singend regiert – und willkürlich zum Rechtstaat erklärt. Bonnie begibt sich in den Dienst dieses Staates; was sie zu tun hat, bleibt nicht nur für sie nebulös. Einmal ist die Rede davon, dass sie das Glück des Staates sichere, aber ein paar Seiten später wird sie sagen: "Ich habe wieder absolut nichts verstanden."

Schrecken weiblicher Selbstaufgabe

Es gibt also den Polizei-Chor, der vor allem damit beschäftigt ist, durch die Gegend zu marodieren und anlasslose Feste zu feiern. Es gibt dazu noch zwei Mittler-Figuren, die dafür zuständig sind, die Verhältnisse für Bonnie und die Leser*innen explizit zu machen: ein Küchenmädchen, das die Verteilung der Wurstbrote überwacht, von denen man sich hier ernährt. lepper vitaAnne Lepper © Dennis Weinert

Außerdem regelmäßig vom Polizei-Chor vergewaltigt und zum Schluss getötet wird. Und eine Alte Dame, die das Küchenmädchen und Bonnie als strenge Gouvernante unterdrückt und bei Bonnie eine Art Stockholm-Syndrom auslöst. Schon Anne Leppers Debüt-Stück, die Inzest-Geschichte "Sonst alles ist drinnen", war ein einziger riesiger Vorwurf an die weibliche Selbstaufgabe: Hauptfigur Anne lebt in einem inzestuösen Verhältnis mit ihrem Vater zusammen und lässt sich das Kind, das aus dieser permanenten Unterdrückung ihrer Freiheit entstanden ist, am Ende von ihrer Freundin Jenny wegnehmen, die ihrerseits alles sagt und tut, um von ihrem Mann, der sie betrügt und schlecht behandelt, wieder als Frau gesehen zu werden.

"Entwurf für ein Totaltheater" spitzt dieses Lepper-Thema ins Zynische zu, indem es in einer Szene ein Gesellschaftsideal der zuende gedachten Selbstlosigkeit dahinstilisiert: die Wurstbrot-Produktion, wo tausende und abertausende Frauen in weißen Kleidern Brote für den Rechtsstaat schmieren, bis sie eines Morgens nicht mehr aufwachen. Dann werden sie in eine Luke geworfen und gekalkt "wie Mozart". Ein männlicher Kontrolleur "im Boss-Anzug" überwacht den Prozess – vielleicht auch nur in Bonnies vorauseilender Vorstellung. Auf jeden Fall beeindruckt sie das alles sehr "diese Perfektion diese Eleganz dieses In Mit und Füreinander“. Es wird zum Schluss wohl auch ihr Schicksal werden, ein Teil davon zu sein. Liegt es daran, dass die Sehnsucht, dieses "mehr als alles-Wollen" Bonnies Seele korrumpiert hat? So wie sie dann auch die Seele des Küchenmädchens korrumpiert, das wir nach seiner Ankündigung, dass es nun auch – vor Bonnie! – zum Theater gehen wird tot im Straßengraben wiedersehen.

Attrappe oder Wirklichkeit?

Die Sehnsucht ist, wie schon in Anne Leppers Stück "Käthe Hermann", mit dem Kunst-Wollen verfilzt: "Kunst ist zu jeder Zeit das Dringlichste" sagt da Käthe, die Mutter der Familie, die als last men standing in ihrem Haus im Braunkohle-Abbaugebiet ausharren. Das bedeutet, dass ihre Ideen, die Ideen der (wenn auch ehemaligen) Tänzerin, ergo Künstlerin, absolut gesetzt und von den Kindern Irmi und dem körperlich behinderten Martin nicht zu hinterfragen sind. "Wenn das eine gute Idee wäre, hätte ich sie längst selbst gehabt", das ist noch so einer von Käthes Sätzen.

Bonnie tritt im Unterschied zu Käthe nicht nach, sondern (vermeintlich) vor einem offiziellen Berufsleben als Künstlerin vor uns. Was die beiden gemeinsam haben, ist die Bedeutung der Kunst als Fluchtziel aus einer mit anderen geteilten Realität. Es ist, in anderen Worten, nicht klar, was in diesem "Entwurf für ein Totaltheater" innerhalb und was außerhalb von Bonnies Kopf spielt. Inwiefern der totalitäre Staat mit dem Polizei-Chor als Regent ein Widerstand ist, den sie sich gebaut hat, um sich an ihm abzuarbeiten – oder die harte Welt, in der sie sich als Klischee der Kunst-Wollenden nur auf das Märchen von der Grille und der Ameise zurückziehen kann. Im Stücktext wird das immer wieder an der Frage verhandelt, ob der Mond echt ist oder nur eine Attrappe – der Vollmond bedeutet für Bonnie, dass ihre Zeit, Erfahrungen zu sammeln, vorbei ist. Damit wohl auch die Chance, tatsächlich aus ihrer "vorhandenen Wirklichkeit" mit dem Ehemann/Milchmann als Machthaber auszubrechen, falls es solch eine Chance wirklich jemals gegeben hat.

Fatalismus als Lebens-Sound

Strukturell ist "Entwurf für ein Totaltheater" eine Art Musical: Neben The Smiths werden unter anderem Liedtexte von Iggy Pop und Chris Montez zitiert, und der Polizei-Chor kommuniziert ausschließlich singend, wobei er gegen Ende zunehmend auch die anderen Figuren ansteckt. Allerdings erklingen meistens nur Strophen oder Teile von Strophen; die musikalischen Einlagen bleiben also fetzenhaft, was der Traumlogik der kurzen Szenen (103 Seiten für die 55 Kapitel) entspricht; den vielen Referenzen, die aber nicht präzise gesetzt sind, sondern eher unkontrolliert sprudeln, als wären da zu viele Eindrücke, die nicht mehr geordnet verarbeitet werden können.

Wie schon in ihrem bisher meistgespielten Stück "Seymour", das davon handelt, wie eine Gruppe dicker Kinder in einem Zauberberg-artigen Sanatorium von der Gesellschaft ferngehalten werden, schließt Anne Lepper auch ihren "Entwurf für ein Totaltheater" mit einer namentlichen Auflistung von Künstler*innen ab, die sie inspiriert haben und die sie strukturell oder auch wörtlich zitiert – nur dass die Liste beim "Totaltheater" um einiges länger ist. Beinahe könnte man meinen, Anne Lepper wolle ihre eigene Transparenz-Offensive ad absurdum treiben. Dagegen arbeitet die überstarke Präsenz von "Smiths"-Sänger Morrissey als den Sound des Stücks vorgebende Hauptquelle. Einen Sound, vielleicht beschreibbar als Fatalismus mit Autoimmunerkrankung – der sich also immer wieder von sich selbst abstößt. Zum Glück!

 

Lesung von "Entwurf für ein Totaltheater" am zweiten Tag des Autorenwettbewerbs, 1. Mai 2016, 15.30 Uhr, im Alten Saal

 

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