Harte Schalen

von Georg Kasch

April 2016. Wie miteinander reden? Wie zusammenkommen? Nie ist das schwerer als mit 14, 15, 16 Jahren, mitten in den körperlichen und seelischen Umbrüchen, in denen sich so ziemlich jeder wie ein Freak fühlt. Eine Zeit, in der um weiche Kerne besonders harte Schalen gebaut werden, auch wenn das gerade die zwischenmenschliche Ebene meist schwieriger macht als leichter. Davon erzählen die drei Abende, die in diesem Jahr zum Jugendstücke-Wettbewerb des Heidelberger Stückemarkts eingeladen sind. Auf formal sehr unterschiedliche Weise, schließlich decken die Einladungen mit einem Drama, einer Roman-Adaption und einer Stückentwicklung geradezu vorbildhaft ab, auf welche Weise deutschsprachige Jugendtheater gerade ihre Themen verhandeln.

Nämlich nicht anders als die Sprechbühnen, allerdings ohne Altersfokus. Die Probleme sind dieselben: Romanadaptionen erzählen oft in erster Linie die Handlung nach und finden nur selten für die Nuancen einen Platz oder eine Sprache. Stückentwicklungen wiederum hängen nahezu vollständig am Entwickler-Team – unwahrscheinlich, dass ein so entstandenes Projekt später nachgespielt wird.

"Deals" und die Kraft der Familie

Ein Problem, das "Deals" von Jan Friedrich nicht haben dürfte. Friedrich war vergangenes Jahr mit "Szenen der Freiheit" zum Autorenwettbewerb eingeladen, einem Stück, in dem junge Erwachsene nach Lebendigkeitsspuren in einer sinnentleerten Welt suchen. Jetzt zeigt er in seinem Jugendtheater-Erstling eine kaputte Kleinfamilie. Der zwölfjährige Benny liegt nach seinem versuchten Selbstmord (er hat sich mit dem Inhalt seines Chemiebaukastens die Speiseröhre verätzt) im Krankenhaus. Seine Mutter Ellen kifft, sein Vater Simon lebt schon lange von der Familie getrennt und schläft mit Männern, seine 15-jährige Schwester Isabella versucht mit aller Macht, ihre Umwelt zu manipulieren und die dysfunktionale Familie mit elaborierten Fremdwörtern zur Idylle schönzureden.

deals1 250 Katrin Ribbe"Deals" © Katrin Ribbe

Eine aussichtslose Sache! Schließlich gibt es zu viele Verletzungen, Vorwürfe, Kommunikationslücken – wer diese aufgebrochenen Monologe für Gespräche hält, der glaubt auch, dass das Plappern der Protagonisten Realismus ist und nicht die Flucht vor der Stille. Zum Katalysator wird Gregor, Isabellas 17-jähriger Freund, den alle als Wunschautomat missbrauchen: Isabella als Kuscheltier auf Ansage, Ellen als Drogendealer, Simon als nicht ganz billige schnelle Nummer. Der little poor rich boy, der das Geld trotzdem braucht, um sein Leben hinter sich zu lassen – dieser Umstand wirkt als Zusammenfassung klischeehafter, als es sich in "Deals" liest. Am Ende ist Gregor der einzige, der an die Familie glaubt: "Ihr liebt euch!"

Dass Friedrichs Stück am Ende die Kurve vom Zynismus zum Happy End bekommt, gehört zu den wundersamen Momenten dieses lakonischen Textes, der sich hervorragend liest. Die nach Heidelberg eingeladene Uraufführung aus Hannover von Hanna Müller konzentriert sich ganz darauf, das Stück eins zu eins auf die Bühne zu übertragen. Dort steht eine achteckige Insel mit altmodischen "Disneyland"-Buchstaben drauf – Kalifornien ist das Sehnsuchtsziel der Familie und damit so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner. Hier werden laut klackernd die schnell wechselnden Kapitel angezeigt, während sich das "open everyday" langsam zu "ope neveryday" verschiebt. Das war's aber auch schon mit sich öffnenden Assoziationsräumen. Der Rest ist reduziertes Spiel, ohne dass die Charaktere auf der Bühne eine besondere Sogkraft entwickelten.

"Es bringen": Coming-of-age in der Betonsiedlung

Ganz anders in den anderen beiden Produktionen. Verena Güntner ist im Erstberuf Schauspielerin, im Zweitberuf Schriftstellerin. Ihr Debüt "Es bringen" von 2014 schildert auf rasanten 250 Seiten eine Betonsiedlungsjugend heute: Der 16-jährige Luis ist der King seiner Clique, über ihm steht nur der "Chef" Milan, 20. Sein Geld verdient sich Luis mit "Fickwetten" – wenn er vorher bei seinen Kumpels sein Ziel angekündigt und es erfolgreich umgesetzt hat, bekommt er für die detaillierte Schilderung des Beischlafs Kohle. Seine Höhenangst hat er sich konsequent abtrainiert mit der Durchhalteparole: "Ich bin der Trainer und ich bin die Mannschaft" – Kopf kommandiert Körper.

esbringen1 250 Sebastian Hoppe"Es bringen" © Sebastian HoppeDiese übersichtliche und machohafte Lebenseinstellung bröckelt, als er erfährt, dass seine (noch junge) Mutter eine Beziehung mit Milan hat. Oder um es in Milans Worten auszudrücken: "Wir ficken." Damit verliert Luis’ auf einen Schlag seine beiden Hauptreferenzpersonen. Ein typischer Coming-of-Age-Plot, eingehüllt in eine drastisch-realistische Sprache. Er erzählt von Menschen, mit denen der durchschnittliche Theaterbesucher vermutlich nicht so oft zu tun hat und die einem in ihrer Direktheit ans Herz wachsen.

Wenn man die Bühnenfassung von Karsten Dahlem und Judith Weißenborn liest, fehlt einem erst mal viel. Nicht nur ganze Episoden. Sondern vor allem Zwischentöne, Gedanken, Entwicklungen. Die direkte, testosteronschwangere Sprache der Jugendlichen knallt einem noch krasser um die Ohren, klingt zuweilen auch umständlich, weil sich das erzählende Ich des Romans nicht ohne weiteres in Dialoge auflösen lässt. Hart geschnitten wirken die Szenen, bis auf die Knochen reduziert.

Dahlem ist nicht nur Regisseur und Drehbuchautor ("Freier Fall"), sondern auch Schauspieler. Das merkt man seiner Inszenierung am Jungen Schauspiel Düsseldorf an, die auf die Knochen wieder Fleisch packt. Mit Hochdruck agieren die drei Jungs auf dem schmalen Nudelbrett von Bühne, meist direkt in Richtung Publikum. Starke Bilder sind das, wenn die Wand hinter ihnen erst ihre Haut – eine Plastikschicht – verliert und dann ihr Gleichgewicht. Stark sind auch die musikalischen Miniaturen, etwa wenn Mutter und Sohn "Creep" von Radiohead singen oder sich die Jungs ihre Bühnensituation erbeatboxen.

Anfangs spitzen die Schauspieler ihre Figuren geradezu comichaft zu – da trägt Luis zum Beispiel ein weißes Unterhemd und Stirnband zur Trillerpfeife; Milan trennt auch im Schwimmbad nicht von seiner schwarzen Ganzkörperkluft. Nach und nach lösen sich diese Zuschreibungen auf, als würde sich mit Luis’ innerer Entwicklung auch sein Blick auf die Menschen um ihn verändern. Übrigens gibt’s auch in "Es bringen" einen Sehnsuchtsort, auf den sich alle einigen können: Das Pony Nutella steht für den weichen, kindlichen Kern, den auch die harten Jungs in sich tragen.

"Zwischeneinander" und die Frage, wie man sich im Netz bewegt

Nach einem Sehnsuchtsort muss man in "Zwischeneinander" nicht lange suchen: Er ist das zentrale Thema. Auf der Inhaltsebene ist es die zärtliche Begegnung, die so schwer zu machen ist. zwischeneinander2 250 Arno Declair"Zwischeneinander" © Arno Declair

Auf der Inszenierungsebene gibt’s da diesen braunen Pullover, der zu Beginn die beiden Schauspieler zusammenzwängt, während sie noch an der Tafel stehen und ihre Hände sich verselbstständigen, ein Herz bilden, einen Vogel – bis seine Hand die ihre am fliegen hindert.

In diesem Spannungsfeld verhandelt "Zwischeneinander" Distanz und Nähe, Intimität und Grenzüberschreitung in Zeiten des Internets. Als Klassenzimmerstück des Jungen DT, der Jugendsparte des Deutschen Theaters Berlin, tourt es durch Schulen und wird auch in Heidelberg zwischen Tafel und Pulten aufgeführt. Das Team – Regisseur Martin Grünheit, die Schauspieler Roland Bonjour und Katharina Schenk – hat es zusammen mit einer neunten Klasse entwickelt. Dabei gelingt ihnen der Spagat zwischen schwierigen, da moralisch äußerst aufgeladenen Themen und spielerischer Leichtigkeit.

Gleich zu Beginn spricht erst Bonjour, dann Schenk den Text des deutschen Youtubers Liont, der sich gegen Hater richtet, die ihm und seinen Fans nahelegen, sich das Leben zu nehmen. Schon der Text entbehrt – bei aller gebotenen Dringlichkeit – nicht der Komik mit seinen grammatikalischen Entgleisungen. Auch Bonjour und Schenk brechen das moralische Pathos, etwa wenn Schenk Lionts Rant ihrem iPod abzulauschen scheint, den Bonjour steuert – und damit auch die willkürlichen Pausen der Kollegin.

Der Appell aber bleibt: Überlegt, was ihr tut – und wie ihr euch im Netz bewegt. Er geistert auch durch die Folgetexte, die eher ein Stammeln sind, eine Orgie der verbalen Hilflosigkeit in Zeiten der mobilen Social-Media-Logorrhoe. Einmal spricht er davon, was er alles über sie herausgefunden hat auf Facebook und Co. Dann wieder wechseln sich beide ab mit kurzen Meinungssätzen, aus denen der Pubertätsschweiß dampft. Während sie sich in einen Sprechrausch spricht, wird er müde und sucht ihre Nähe. Als sie dann aber endlich ihren Kopf in seinen Schoß bettet, sucht er gleich wieder die ironische Pose, indem er sein Kinn auf die Hand stützt, während sein Ellenbogen Halt auf ihrer Hüfte sucht.

Zwischenmenschliche Neugier

So geht es immer weiter beim Versuch, sich einander peinlichkeitsfrei anzunähern. Das ist – zumal in dem Alter – per se ein schwieriges Unterfangen, auch und wegen der virtuellen Parallelwelten. Ein Umstand, den "Zwischeneinander" auf herrlich ironisch Weise auskostet, ohne die harten Themen – Mobbing, Daten-Unsicherheit, die Suche nach Liebe und Sinn – kleiner zu machen oder gar eine Lösung zu empfehlen.

Mit einer Lösung halten sich alle drei Abende wohltuend zurück. Stattdessen folgen sie lieber neugierig den zwischenmenschlichen Ent- und Verwicklungen, dem Sinn des Lebens und des Todes (bezeichnender Weise der Selbstmord in allen Texten seinen prominenten Platz). Damit liegen sie alle im momentanen Kinder- und Jugendtheater-Trend, Konflikte nicht in außergewöhnlichen, sondern in exemplarischen Fällen zu suchen. Mag der Plot dadurch auch zuweilen an Originalität einbüßen – dem dramatischen Drive der Geschichten schadet’s in keinem Fall. 

 

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