"Theater kann radikal bewerten"

nachtkritik.de: Haben Sie "Mitten in Deutschland" gesehen, die ARD-Filme über den NSU?

Sapir Heller: Ja. Wir haben daraufhin sofort unsere Inszenierung aktualisiert. Wir haben zum Beispiel noch eingebaut, dass Beate Zschäpe und Uwe Mundlos bei einem V-Mann gearbeitet haben.

nachtkritik.de: Haben Ihnen denn die Filme gefallen?

Sapir Heller: Eigentlich schon. Ich habe im Vorfeld der Inszenierung ja sehr viele Filme und Dokumentationen zu dem Thema gesehen, und es wird darin etwas reißerisch versucht, ins Privatleben der Terroristen hineinzuleuchten, obwohl kein Mensch darüber wirklich Bescheid weiß. Ich muss besonders den zweiten Teil loben, der von den Opfern handelt – es ist immer unheimlich heikel, die Opfer zu spielen, weil sich da Überhöhung und Überzeichnung im Grunde verbieten. Sie haben das in dem Film aber sehr dezent gemacht.

Sapir Heller stefan LoeberSapir Heller © Stefan Loebernachtkritik.de: Glauben Sie denn, dass das Theater bei einem Thema wie dem NSU-Komplex gegenüber Film und Fernsehen vielleicht sogar im Vorteil ist?

Sapir Heller: Theater kann jedenfalls etwas, was Fernsehen im Normalfall nicht kann – Theater kann radikal bewerten. Filme mit halbdokumentarischem Anspruch versuchen immer, den Stoff möglichst objektiv rüberzubringen. Das war bei mir ganz anders, ich wollte von Anfang an meine und unsere Wertungen mit hineinbringen, wir wollten alles hinterfragen, immer neue Fragen stellen. Das kann Film in dieser Form nicht so gut.

nachtkritik.de: Sie haben eben gesagt, dass Sie das Stück aktualisieren. Geschieht das in Absprache mit Tuğsal Moğul, dem Autor und Uraufführungsregisseur des Stücks?

Sapir Heller: Bevor ich angefangen habe zu inszenieren, habe ich mit Tuğsal Moğul geredet, und er hat mir gleich gesagt, dass ich eine Textfassung habe, die nicht auf dem neuesten Stand ist – die Premierenfassung aus Münster, die schon fast anderthalb Jahre alt ist. Und ich dürfe da durchaus Szenen streichen, neue schreiben und auf jeden Fall aktuelle Infos reingeben. Er hat gesagt: "Ich habe eine Vorlage geschrieben – aber jetzt kannst Du daraus machen, was Du willst." Das ist eine tolle Ansage von einem Autor! Das macht eigentlich sonst keiner. 

nachtkritik.de: Tuğsal Moğul ist ja für seine Recherchen eigens nach München zum NSU-Prozess gefahren, um sich das vor Ort anzusehen. Haben Sie das auch gemacht?

Sapir Heller: Ja, neben der üblichen Recherche mit Filmen, Zeitungen etc. ist das Team tatsächlich mehrfach zu dem Prozess gefahren. Was der eine Schauspieler im Stück erzählt – dass wir am Tag der Aussage von Beate Zschäpe dort waren und vorm Gericht übernachtet haben, um dabei sein zu können –, stimmt tatsächlich. Das war... eine Erfahrung.

nachtkritik.de: Wo wir bei Beate Zschäpe sind – gibt es so etwas wie eine Angst, dass man mit einer Aufführung wie der Ihren ungewollt dabei hilft, eine Täterikonografie weiter zu verfestigen – vom rosaroten Panther bis zu dem mittlerweile berühmten Video, auf dem Beate Zschäpe tanzt? Die Gefahr ist doch, dass man sich immer an die Täter erinnern wird, nicht aber an die Opfer.

Sapir Heller: Das stimmt schon. Viele Motive, die wir in dem Stück benutzen, stammen aus der Selbstinszenierung der Täter. Wir haben aber versucht, sie so überspitzt zu verwenden, dass sich daraus keine Heldengeschichte ergibt, sondern im Gegenteil: eine Entheroisierung. Die Täter inszenieren sich groß, und wir brechen das. Übrigens spielen die drei Schauspieler nicht nur die Täter, es ist ein ständiges Rein in die Rollen und Raus aus den Rollen, auch die Opfer kommen natürlich vor. Es war mir auch wichtig zu zeigen: Es geht nicht einfach um dieses Trio. Das waren keine Einzeltäter, da ist eine riesige Szene im Hintergrund.

nachtkritik.de: Haben Sie andere Stücke gesehen, die sich mit dem NSU-Komplex beschäftigen? Es gab ja einige, etwa "Die Lücke" von Nuran David Calis in Köln, "Urteile" von Christine Umpfenbach und "Das schweigende Mädchen" von Elfriede Jelinek in München...

Sapir Heller: Nein. Ich habe viel über die anderen Inszenierungen gelesen, mir Bilder davon angeschaut, aber keine von ihnen gesehen. Nicht einmal die Aufführung von Tuğsal Moğul. Ich wollte das nicht, denn das kann im Kopf auch sperren. 

nachtkritik.de: Und wie sind Sie dann auf den Text gekommen, wenn Sie Tuğsal Moğuls Aufführung nicht kennen?

Sapir Heller: Das war ein Vorschlag des Intendanten des Zimmertheaters Tübingen. Er fand die Münsteraner Aufführung großartig und fragte sich, ob der Text auch für sich genommen gut ist. Ob man für einen solchen Text auch andere Bilder finden kann. Mir hat das Stück gleich gefallen, weil es von vornherein eine sehr spielerische Ebene hat – es ist nicht unbedingt klassisches Dokumentartheater. Man merkt ihm aber auch an, dass es die Stückentwicklung eines Autors und Regisseurs ist, die erst während der Probenarbeit ihre endgültige Form angenommen hat. Deswegen war mir klar: Ich kann das nur machen, wenn ich das nicht wie eine Uraufführung vom Blatt spielen muss. Ich muss es zu meinem Eigenen machen können – und deswegen war es so beglückend, von Tuğsal Moğul genau diese Erlaubnis zu bekommen: "Mach, was Du willst!"

Das Gespräch führte Wolfgang Behrens.

 

 

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