Die Strategie Mord

von Cornelia Fiedler

Heidelberg, 3. Mai 2016. Erst der Ort, dann der Name, dann die Todesart: "Von Neonazis zu Tode geprügelt", "nach Punkfestival von Neonazis getötet", "mit 91 Messerstichen erstochen, weil sie einen 'Nazis raus'-Aufnäher auf der Jacke trug." Minutenlang zählt Philipp Lind weit über hundert Menschen auf, die in Deutschland zwischen 1999 und 2011 von Rechtsradikalen ermordet wurden. Während er ruhig in der Mitte steht und spricht, ziehen Katrin Kaspar und Paul Schaeffer mit einer roten Schnur Linien durch den Raum, von einem Punkt zum nächsten, bis ein Netz entsteht, ein Netzwerk. Im Hintergrund, auf dem schlichten Bühnenprospekt voller Phantombilder (Bühne: Ursula Gaisböck), formen die Linien kaum sichtbar das Logo des NSU. "Und das waren alles Einzeltäter", heißt es am Ende lapidar. Das Bild auf der Bühne erzählt eine andere Geschichte.

Choreografie der NSU-Tatorte

Tuğsal Moğuls Rechercheprojekt zum NSU, "Auch Deutsche unter den Opfern", ist ein Frontalangriff mit Fakten. Gut eine Stunde haben die drei bis zu diesem Zeitpunkt bereits detaillierte Analysen und geballte Information präsentiert: All die Ermittlungsfehler und Vertuschungen im Laufe der Mordserie, das Ignorieren missliebiger Zeugenaussagen, die Verdächtigungen gegen die Angehörigen der Opfer, das rassistische Profiling, das Schreddern der Akten zum NSU. Das ganze bekannte Ausmaß des Skandals und all die offenen Fragen dazu.

AuchDeutscheunter2 700 Stefan LoeberFakten unbefangen erklären, Paul Schaeffer, Katrin Kaspar, Philipp Lind in "Auch Deutsche unter den Opfern" © Stefan Loeber

Regisseurin Sapir Heller kombiniert in ihrer Inszenierung für das Zimmertheater Tübingen, nominiert für den NachSpielPreis des Stückemarkts, die Fakten mit betont unbefangener Action. Aus dem berüchtigten Video, das Beate Zschäpe 2011 beim Campingplatz-Aerobic auf Fehmarn zeigt, zu einem Zeitpunkt also, als sie, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos seit 13 Jahren im Untergrund lebten, entwickelt Heller beispielsweise eine bizarre Choreografie der NSU-Tatorte.

Hand zum Kopf: Hamburg, ein Klatschen auf den Oberschenkel: Nürnberg, den Körper zum Fuß beugen: München, und die Schrittfolge nicht vergessen und immer lächeln. Das ist lustig anzuschauen und damit natürlich gekonnt unangenehm. Etwas unglücklich ist dagegen, wie im ersten Teil immer wieder mit der erotischen Spannung zwischen den drei Akteur*innen kokettiert wird, die noch dazu Radlerklamotten tragen wie die NSU-Täter. Seltsam, dass Filme und Inszenierungen so auf dieses Thema abfahren, als wäre das Problem an Mördern, dass sie Sex haben.

Leugnungen offenbaren

Inhaltlich haben Heller und ihr Team Moğuls Recherchen konsequent fortgeführt und aktualisiert. Die absurde Hoffnung etwa, die sogenannte Aussage von Beate Zschäpe im Prozess könne tatsächlich der Wahrheitsfindung dienen, übersetzen sie in einen fast groupiemäßigen Roadtrip zum Prozess nach München, der in großer Enttäuschung endet. "Auch Deutsche unter den Opfern" ist ein intensiver, wichtiger Abend. Vor allem aber geht er einen Schritt weiter als die meisten Theaterprojekte zum Thema. Er öffnet den Blick über den ohnehin schon riesigen NSU-Skandal hinaus auf den noch viel größeren: die konsequente Leugnung einer radikalen, rechtsterroristischen Szene in Deutschland, zu deren Strategien schlicht und ergreifend Mord zählt.

Auch Deutsche unter den Opfern
Ein Rechercheprojekt zum NSU
von Tuğsal Moğul
Regie: Sapir Heller, Bühne und Kostüme: Ursula Gaisböck, Dramaturgie: Michael Hanisch, Sandra Schumacher, Video: Stefan Loeber.
Mit: Katrin Kaspar, Philipp Lind, Paul Schaeffer.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.zimmertheater-tuebingen.de

 

Zum Gespräch mit der Regisseurin Sapir Heller

 

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